Die Schule ist aus, es ist Wochenende! Paul und Kathrin waren mit Chiara, ihrer beider Freundin, auf dem Heimweg. Sie schwärmte gerade davon, dass sie von ihrer Mama zum ersten Advent eine Überraschung bekommt: »Ich hoffe, es ist so ein schöner, selbst gemachter Adventskalender, wie das letzte Jahr!« Paul und Kathrin schauten sich an und überlegten, ob sie wohl auch einen bekommen. »Letztes Jahr hatte ich einen echt schönen LEGO-Adventskalender.«, erinnerte sich Paul mit einem nachdenklichen Gesicht. »Komm schon, Du kannst auch denken, während Du läufst.«, meinte seine ältere Schwester Kathrin. »Hier ist es nämlich verdammt kalt und ich will eine heiße Schoki zuhause!«.
Kaum waren sie durch die Wohnungstür ins Haus gestolpert, begann Paul zu rufen, während er mit noch einem angezogenen Schuh zur Garderobe humpelte: »Mama, machst Du uns zwei eine heiße Schoki?« Sie setzten sich gemeinsam an den Küchentisch und erzählten Christine, ihrer Mama, von ihrem Schultag und erwähnten in einem Halbsatz den Adventskalender, den sich Chiara erhoffte. Christine seufzte und dachte daran, dass sie noch vor drei Tagen so enorm von Michaels Schoko-Adventskalender geschwärmt hatten und dass er doch so ein schönes Motiv habe. »Egal«, meinte sie zu sich selbst »Was tut man nicht alles, damit die Kinder zufrieden sind.« Sie entfernte sich etwas vom Küchentisch und korrigierte ihren Einkaufszettel.
Irgendwie schaffte Christine es, Kathrin und Paul diesmal nicht mit zum Einkaufen mitzunehmen. Es war mittlerweile nämlich bereits der 29. November 2019 und sie hatte noch immer nicht alle Sachen für den Adventskalender beisammen. Also brauchte sie etwas Zeit alleine, damit die Kinder nichts mitbekamen. Im Supermarkt angekommen, traf sie ihre beste Freundin Sophie, die verzweifelt das Regal mit den kleinen Spielsachen anstarrte. »Heeey Sophie!«, begrüßte Christine sie, ging zu ihr in den Gang und lächelte. »Du siehst genauso verzweifelt aus, wie ich mich fühle …«, entgegnete ihr Sophie und lachte. »Naja, was will ich sagen …«, begann Christine. »Ich hab keine Ahnung, was ich in die letzten zwei Adventskalender-Säckchen machen soll. Wenn Kathrin und Paul dasselbe bekommen, gibt es Streitereien in der Früh, wer seinen Adventskalender wohl als erstes aufgemacht hat und dann dem anderen verraten kann, was drin ist. Mache ich etwas völlig Verschiedenes rein, gibt es genauso Streitereien, weil ja das vom anderen viel besser ist und man ja eigentlich das viel lieber hätte. Also muss es etwas Ähnliches sein – nur was?« Nach etwa einer halben Stunde in diesem Gang und diversen Diskussionen mit Sophie hatte Christine nun endlich alles, damit sie den Adventskalender fertigbekam – jetzt musste sie nur noch basteln, wenn die Kinder im Bett waren. Also war sie abends immer bis halb drei in der Nacht wach und bastelte und verzierte jedes Säckchen, damit wirklich jedes ein schönes Gesicht eines Rentiers, Pinguins, Eisbären oder Schneemanns hatte. Sie hatte es gerade noch rechtzeitig geschafft, dass alles zum ersten Dezember fertig war.
Am Morgen des ersten Dezembers dann stand Kathrin sogar sonntags mit ihrem Wecker um 7 auf, damit sie ja nicht zu spät ist, um ihr erstes Adventskalender-Säckchen zu öffnen. Hellauf begeistert lief sie mitsamt dem aufgemachten Säckchen im Eiltempo quer durchs Haus und riss wie ein Wirbelwind die Schlafzimmertür von ihren Eltern auf, die daraufhin fast senkrecht im Bett standen. Obwohl sie wirklich beide versuchten Kathrin vorerst zu ignorieren und sich wieder schlafend zu stellen, mussten sie die Demonstration des »Filly-Einhorns« über sich ergehen lassen. Eigentlich war es ja nur eine Mini-Figur in Einhorn-Form, aber das spielte keine Rolle, denn in Kathrins Augen war das jetzt genau der richtige Zeitpunkt die Fähigkeiten von ihrem kleinen Einhorn vorzustellen.
Die Tage vergingen und sowohl Kathrin, als auch Paul, die sonst beide nicht aus den Federn zu bekommen waren, standen überpünktlich um 7 oder teilweise sogar noch vor ihrem Wecker auf, damit sie genug Zeit hatten, vor der Schule noch das entsprechende Säckchen aufzumachen. Heute jedoch war Nikolaus, worauf sich die beiden enorm freuten. Ihre Eltern, Eduard und Christine, hatten eher Bauchschmerzen, wenn sie an den heutigen Abend dachten. Sie versuchten beide seit Tagen, wenn nicht sogar schon seit Wochen, jemanden aufzutreiben, der abends den Nikolaus spielen könnte. Aber vergeblich. Als die Kinder gerade mit Eduard aus dem Haus gehen wollten, kam Eduard die Idee: »Christine, wir finden keinen Nikolaus mehr. Unabhängig wen wir fragen: wir bekommen nur zu hören, wer alles keine Zeit hat oder sich nicht heilig genug fühlt«, meinte er. »Grade kam mir aber eine geniale Idee, als ich draußen die Nachbarskinder gesehen hab. Erinnerst Du Dich, als sie vor zwei Jahren zum Nikolaus einen Klingelstreich gespielt hatten und Kathrin und Paul beinahe ausgeflippt sind, weil der vermeintliche Nikolaus doch nicht da war?«, er grinste dabei mittlerweile schelmisch. »Lass uns doch genau das gleiche Szenario wieder machen, nur dass wir diesmal jemand anheuern, der klingelt und einfach den Sack mit Geschenken vor die Tür legt. Ich wüsste da sogar schon jemand: Bogdan – er sagt immer, er mache alles, wieso also nicht auch das?« Eduard schaute Christine fragend an. Sie schüttelte zwar erstmal den Kopf, zuckte aber sofort danach mit den Schultern und willigte resigniert ein: »Er spricht halt nur Polnisch oder Englisch, also kommt er für das Nikolaus-Spiel wirklich nicht infrage. Für Deine Idee würde es aber genügen und ich glaube, wir haben wirklich keine andere Alternative.«
So kam es, dass es am Abend des sechsten Dezembers während des Abendessens klingelte. Paul rannte wie ein Pfeil zur Tür und riss die Tür auf, aber da war niemand. Er fand jedoch auf der Treppe vor dem Haus einen Sack, den er stolz zurück in die Küche trug. Eduard fragte unwissend, während er aus dem Augenwinkel im Fenster Bogdan sah, der sich gemütlich wieder auf den Heimweg machte: »Und Paul, war jemand an der Türe? Was hast Du denn da?« Begeistert packten die beiden ihre Nikolausüberraschungen aus und freuten sich sowohl an Orangen und Äpfeln, als auch natürlich an den zwei kleinen Playmobil-Sachen, die zufällig zusammenpassten. Christine flüsterte Eduard erleichtert zu: »Ein Glück, dass sie Bogdan nicht bemerkt hatten. Ich sah ihn schon, wie er durchs Fenster geschaut hatte, den Sack über die Schulter geworfen.«
Der Nikolausabend ging gemütlich zu Ende und am darauffolgenden Wochenende stand Plätzchenbacken auf dem Programm. »Paul, Kathrin, wisst ihr wo unsere Ausstecher hingekommen sind?«, fragte Christine verwirrt. »Letztens hattet ihr sie doch, als ihr Chiara geholfen habt, Plätzchen zu backen.« Paul wurde rot und stotterte: »Ich weiß es nicht, vielleicht – aber auch nur vielleicht – hab ich sie bei Chiara liegen gelassen?« »Mhm«, meinte Christine »Dann werden wir uns wohl schwer tun mit Plätzchen backen. Vor allem, weil Chiara mit ihrer Familie dieses Wochenende bei ihren Großeltern ist. Also dann müssen wir uns wohl auf dem Christkindlmarkt vergnügen, wir bekommen in der Regel sowieso mega viele Plätzchen von Oma und Opa geschenkt.« Kaum hatte sie es ausgesprochen, klingelte es an der Haustür. Eduard öffnete und es stand der Postbote draußen mit einem Paket. Er stellte es auf den Küchentisch und meinte zu Kathrin: »Du darfst gern aufmachen, das ist ein Päckchen von Oma.« »Au ja!«, rief Paul sofort und rannte zu Kathrin. »Eventuell sind da schon die Plätzchen drin.«, sagte er grinsend zu seiner Mama. Und sie waren wirklich drin. Oma schickte einen Brief und dazu Unmengen selbst gemachter Plätzchen. Kathrin las den Brief von Oma vor, während alle anderen sich bereits um die Plätzchendose scharten und von jedem ein oder zwei probierten und Kathrin eigentlich gar nicht wirklich zuhörten. Es stellte sich heraus, dass Oma und Opa dieses Jahr über die Weihnachtstage in den Urlaub gefahren sind, da ihnen das Wetter nicht wirklich gefällt und sie den Weihnachtsstress gar nicht brauchen. »Oma verbringt dieses Jahr also am Strand?«, stellte Paul ungläubig fest und drehte sich zu seinem Papa um: »Wie genau will Oma denn am Strand einen Weihnachtsbaum aufstellen?« Eduard lachte: »Das mein kleiner ist eine berechtigte Frage. Ich würde sagen, das fragst Du sie, wenn wir sie nach Weihnachten wiedersehen.«
Die Tage bis Weihnachten vergingen wie im Flug. Fast jeden Tag war irgendeine Weihnachtsfeier, einmal von Kathrin mit all ihren Freundinnen und Freunden am Nachmittag. Den Tag darauf war Christine mit ihren Freundinnen auf dem Christkindlmarkt, Paul hatte mit seiner kompletten Schulklasse einen Ausflug auf den Nürnberger Christkindlmarkt und auch Eduard war gut eingespannt. Kurz vor Weihnachten, am Abend des 18. Dezembers hatten dann alle gar keine Lust mehr auf noch eine Weihnachtsfeier. »Müssen wir heute Abend wirklich nochmal auf den Christkindlmarkt? Ich war jetzt schon dreimal auf diesem einen. Können wir nicht einfach zuhause Kinderpunsch trinken und die letzten vier Lebkuchen essen?«, meinte Paul genervt. »Paul, wir müssen nicht, wenn Du nicht willst. Dann sage ich ab. Das Wetter ist eh mehr als ungemütlich draußen. Wenn es wenigstens schneien würde, anstatt zu regnen.«, vertröstete ihn Christine. »Ich selber hab auch keine Lust bei dem Mistwetter draußen zu stehen und mich mit diesen schnöseligen Eltern von Marius zu unterhalten.«, meinte sogar Eduard.
Somit war die Entscheidung relativ klar: Keiner wollte sich auch nur noch einmal auf den gleichen Weihnachtsmarkt in der Ortschaft stellen, der noch dazu nur fünf Buden hatte, wovon drei etwas zu Essen und Trinken anboten. Der Abend hat demnach damit geendet, dass Kathrin und Paul mit Kinderpunsch und Christine und Eduard mit Glühwein und einem Extra-Schuss Amaretto auf der Couch lümmelnd das vierte Mal an diesem Tag den Polarexpress anschauten. Als der Film endete, trug Eduard zuerst Paul und dann Kathrin schlafenderweise ins Bett. »So anstrengend ist also die Adventszeit.«, flüsterte Christine Eduard schmunzelnd zu, der Paul gerade ein Küsschen auf die Wange drückte. Die restlichen Tage bis Weihnachten vergingen wie im Flug.
Endlich war der große Tag gekommen: der 24. Dezember. Die Kinder waren absolut aufgedreht und fetzten schon seit früh morgens im ganzen Haus herum. »Könnt ihr bitte etwas langsamer tun, damit uns nicht heut schon der Christbaum umfällt?«, ermahnte Christine die beiden mit rollenden Augen. »Wir sind doch gar nicht schnell unterwegs.«, entgegnete Paul, während er von der Küche ins Wohnzimmer flitzte »Es ginge noch viel schneller, soll ich es Dir zeigen?« Eduard fing die beiden im Laufen ein und eröffnete ihnen, dass sie sich jetzt warm anziehen sollen: »Los ihr beiden, zieht Euch mal warm an, wir bringen jetzt die ganzen Herbstsachen in den Wald«. Daraufhin war die Freude riesig. Sie hatten im Herbst gemeinsam Eicheln, Kastanien und Maiskolben gesammelt und wollten sie zu Weihnachten in den Wald bringen und die Sachen den Tieren dort schenken. Schließlich sollen die ja auch was zu Weihnachten bekommen. Nach vier Stunden kamen die drei zurück und Christine stand der Schock ins Gesicht geschrieben: »Wie seht ihr denn aus?«, rief sie. »Habt ihr Euch im Schlamm gesuhlt? Ab unter die Dusche! Oder wollt ihr, dass Euch das Christkind so sieht?«
Diese Aussage half Wunder: nach nicht mal einer halben Stunde waren beide geduscht zurück. Christine lächelte sie an: »So gefällt mir das schon besser. Übrigens hab ich vorhin etwas draußen im Wohnzimmer rascheln gehört. Vielleicht war das Christkind grad schon da.« Noch während Christine ihren Satz vollendete und die Gesichter von Paul und Kathrin zu strahlen begannen, raschelte es erneut im Wohnzimmer. Alle drei sahen sich verwundert an und spurteten los. Auch Eduard kam aus dem Keller gelaufen und gemeinsam stürmten sie ins Wohnzimmer. Mit einem kleinen Schrecken sahen die vier nun zu, wie sich Nala und Filou, die beiden Katzen des Hauses, mit sämtlichen Schleifen an unterschiedlichsten Geschenken vergnügten. Paul bekam seinen Mund gar nicht mehr zu, während er Filou anschaute und sah, dass er gerade genüsslich die kleine Karte an einem der Geschenke zerkaute. Kathrin fixierte währenddessen Nala, die sich gerade enorm anstrengte eins der Geschenke am Geschenkband vom Baum wegzuziehen. Lachend schaltete Eduard die Weihnachtsmusik ein und meinte: »Was schaut ihr denn alle so verdattert. Wundert ihr Euch wirklich? Es ist doch ein ganz normales Weihnachten.« Das schien wohl die Starre der anderen zu lösen und auch aus ihren Gesichtern wich die Verwunderung. »Ja, aber Filou darf doch kein Papier essen, oder?«, meinte Paul fragend zu seinem Papa. »Nein, das darf er wirklich nicht.«, entgegnete Eduard noch immer grinsend. »Aber dann schau doch mal, ob er von dem Kärtchen etwas übriggelassen hat und wem denn das Geschenk gehört.« Sie umarmten sich, während im Hintergrund aus den Lautsprechern »Stille Nacht« ertönte und Christine sagte zufrieden: »Auch wenn es nicht immer nach Plan läuft und die Hälfte der Geschenke von unseren Katzen angegriffen wurden, wünsche ich Euch trotzdem schöne Weihnachten.«
Eine Weihnachtsgeschichte von Dominik Auracher, Dezember 2019
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