Christin und Miriam saßen an einem kleinen Tisch in der Ecke ihres Lieblingscafés beim Frühstücken. Sie mochten diesen Platz. Zum einen konnte man durch das große Fenster die Leute in der Fußgängerzone der Altstadt und das Treiben auf dem Marktplatz beobachten. Zum anderen eignete sich dieser Platz ideal, um sich ungestört zu unterhalten. Gerade beklagte Miriam sich über die letzten fehlenden Möbel nach ihrem Umzug: »Weißt Du, wie oft wir schon bei diesem Möbelhaus angerufen haben? Noch immer haben wir keinen Kleiderschrank für uns und auch das Bett von Timo fehlt noch. Eigentlich hätten sie das schon lange liefern müssen! Timo schläft jetzt schon den zweiten Monat mit bei uns im Bett und eigentlich ist überhaupt kein Platz für uns drei in diesem kleinen Bett.« Christin entgegnete mit einem Lächeln: »Dann war es doch genau richtig, dass wir es jetzt einmal zum Frühstück geschafft haben und Du gerade nicht dran denken musst. Wir müssen wieder öfters frühstücken gehen, nachdem Dein Umzug nun vorbei ist. Unser letztes Frühstück war jetzt wie lange her? Vier Monate oder fünf?« – »Puh, ich glaube eher fünf…«, antwortete Miriam und fügte hinzu: »Eigentlich wollten wir auch noch wegfahren, aber letzten Endes ging unser kompletter Urlaub für den Umzug drauf.« – »Wir wollten auch wegfahren«, meinte Christin daraufhin betrübt. »Anfang des Jahres wussten wir noch nicht, bei welchem Projekt Jakob mitarbeiten wird und als er es dann im März erfahren hatte, musste er direkt jede Woche nach Berlin zu einem Kunden. Vor allem in den Ferienzeiten musste er Vorort sein, was Urlaub mit Kindern unmöglich gemacht hat.« Nach einem kleinen Schluck Kaffee, die Tasse noch in der Hand, ergänzte Christin mit einem Schulterzucken. »Letzte Woche hat sein Chef ihn dann auch noch darauf hingewiesen, dass er dieses Jahr noch seine drei Tage Urlaub aus den Vorjahren nehmen müsste, damit sie nicht verfallen. Keine Ahnung, warum ihnen das erst jetzt auffällt.« – »Das ist ja schräg«, kommentierte Miriam lachend und meinte spaßeshalber: »Dann lass uns doch gemeinsam wegfahren – würde uns sicher allen guttun!«. Christin nickte nachdenklich und versuchte gerade den letzten Klecks Milchschaum aus ihrer Tasse zu löffeln, während sie antwortete: »Ja, das wäre echt eine Idee. Lass uns das mal mit unseren Familien besprechen und überhaupt erstmal schauen, ob irgendjemand für unsere Meute ein Plätzchen übrighat.«
Nachdem sie zahlten und sich verabschiedeten, holte Christin Lucie aus dem Kindergarten und Sarah von der Schule ab. Zuhause angekommen, zauberte Christin aus ein paar Nudeln ein einfaches aber überaus leckeres Mittagessen. »Heute haben wir wieder sooooo viele Hausaufgaben aufbekommen!«, beschwerte sich Sarah und streckte die Arme ganz weit auseinander, um das Ausmaß noch deutlicher zu machen. »Oh nein, wie schrecklich«, entgegnete Christin mit einem Augenzwinkern. »Bevor Du aber zum Spielen raus gehst, musst Du trotzdem erstmal ein bisschen was davon erledigen.« Noch bevor Sarah nachklagen konnte, fiel ihr das Gespräch mit Miriam wieder ein und sie schob sofort nach: »Ich muss mich jetzt auch hinsetzen und meine Hausaufgaben machen.« Verdutzt, den Mund aber noch offen meinte Lucie: »Du bist doch gar nicht mehr in der Schule und musst gar nichts machen, Mama!« – »Stimmt, in der Schule bin ich nicht mehr. Lasst uns gemeinsam am Esstisch arbeiten. Sarah, hol doch schon mal Deine Hefte und Lucie, willst Du Dein Bild von gestern fertig malen? Ich setze mich mit dem PC dazu und recherchiere«, entgegnete sie und stand auf, um den Tisch abzuräumen und jegliches Murren überhören zu können.
Nachdem Christin in der Küche die Idee mit Jakob, ihrem Mann, am Telefon besprochen hatte, der es noch dieses Jahr in den Urlaub zu kommen sehr verlockend fand, setzte sie sich zu ihren Kindern an den PC und begann zu suchen. Einige Zeit, unzählige Buchungs-Webseiten und ein paar zusätzliche Unterbrechungen zur Hausaufgabenhilfe oder Farbenberatung zum Ausmalen später, ging sie aus dem Wohnzimmer in die Küche und rief frustriert Miriam an: »Es ist echt unglaublich: Ich habe für dieses Jahr gar nichts gefunden, was auch nur ansatzweise 5 Personen aufnehmen könnte, nicht absolut hässlich und heruntergekommen ist oder halbwegs bezahlbar wäre. Manche bieten die Unterkünfte ja zum Preis eines Eigenheims an!« Miriam lachte und antwortete: »Keine Sorge, wir haben was gefunden. Nachdem ich Bernhard davon erzählt habe, fand er die Idee auch genial. Er hat daraufhin sofort seinen Bruder kontaktiert und er kannte da wieder einen … - kurz gesagt: wir haben eine Hütte in den Bergen.« Christin strahlte, sie hätte nicht gedacht, dass Miriams Mann von der Idee so begeistert war – und noch mehr freute sie, dass er über zig Ecken eine Hütte organisieren konnte. Noch während sie sich freute, hörte sie Miriam durch das Telefon zu einem ‚aber‘ ansetzen und ihre Hoffnung auf Urlaub begann wieder zu bröckeln. »Einen Haken hat die Sache allerdings«, meinte Miriam mit ernster Stimme. Nachdem sie Christin jedoch nicht schnell genug weitersprach, fragte Christin sofort nach: »… und das wäre?« – »Naja, die kürzeste Buchungsdauer wäre eine Woche und das würde bei der aktuellen Buchungslage auch Weihnachten einschließen.« Christin dachte kurz nach und antwortete Miriam: »Lass mich das heute Abend beim Essen ansprechen. Die Kinder wissen von unserer Idee ohnehin noch gar nichts, sonst würden sie mich gar nicht mehr in Ruhe lassen.«
Als Christin die Idee beim Abendessen ansprach, war die Freude riesengroß. Lucie stieß vor lauter Freude dummerweise ihr Glas um, sodass das freudige Abendessen zwar gleich wieder unterbrochen wurde, die Vorfreude auf Urlaub aber nicht gedämpft werden konnte. Bereits nach dem Abendessen begannen Sarah und Lucie in ihrem Zimmer Spielzeug aus ihren Kisten zu rupfen und auf einem Stapel aufzutürmen, was unbedingt mit in den Urlaub musste – auch, wenn sie sich noch echt lange gedulden mussten.
Die Tage vergingen, die stressige Vorweihnachtszeit, die als so still und heimelig angepriesen wurde, war es wie immer überhaupt nicht. In der Schule musste Sarah noch richtig ranklotzen. Die Lehrer wollten auch die letzten Schultage noch produktiv nutzen und hatten ihrer Schulklasse eine Schulaufgabe in die letzte Woche gelegt. Nachdem sie aber auch die überstanden hatte, stand dem Urlaub nichts mehr im Wege. Der sich täglich ändernde Stapel an hoch wichtigen Spielsachen, die auf jeden Fall mitmussten, fand Platz in einem Klappkorb. Neben den ganzen Stiefeln und sonstiger Winter-Ausstattung fand er grade noch Platz im Auto. Von außen betrachtet sah es ganz danach aus, als ob Christin und Jakob mit ihren Kindern eine Arktisexpedition vorhätten.
Eine mehrstündige Fahrt und unzählige »Sind wir bald da?«-Fragen später kamen beide Familien wohlbehalten an einer verschneiten Hütte in den Ausläufen der Berge an. Sie stiegen aus und halfen ihren Kindern beim Anziehen ihrer Winterklamotten. Sarah und Lucie rannten mit Timo, dem Sohn von Miriam und Bernhard sofort auf die Hütte zu und fingen dabei schon die erste Schneeballschlacht an. »Auch, wenn die Nachbarn der Hütte und die nächsten Ortschaften von hier aus nicht mit bloßem Auge erkennbar sind, hat das doch seinen Charme hier, meinst Du nicht?«, begrüßte Jakob Bernhard lachend mit einer festen Umarmung. »Auf jeden Fall! Allein die Fahrt hier her war bei dem Schnee schon ein Abenteuer. Christin wusste gar nicht mehr, wo sie sich festhalten sollte, so sehr sind wir einmal gerutscht.«, entgegnete Bernhard, als er sich wieder aus der Umarmung löste und Jakob freundschaftlich auf die Schulter klopfte. Miriam klinkte sich mit in das Gespräch ein und scherzte: »Jedenfalls habt ihr beiden dieses Jahr nicht das Problem, dass ihr auf dem Christkindlmarkt zu viel Glühwein erwischt – es hat hier nämlich keinen Christkindlmarkt in der Nähe!« – »Wir brauchen solche Christkindlmärkte nicht!«, konterte Bernhard verschmitzt, legte einen Arm um sie und ging mit ihr auf die Hütte zu. Im Gehen drehte er sich zu Jakob um und fügte flüsternd hinzu: »Wir machen dieses Jahr einfach unseren eigenen Christkindlmarkt.« Jakob, der gerade versuchte, eine Vielzahl der Koffer aus seinem Auto auf einmal zu tragen, um sich einen zweiten Weg sparen zu können, ächzte ein kurzes Wort der Zustimmung. Eine Sekunde später fand man ihn auch schon in einem Hügel aus Schnee wieder und die Koffer lagen darum verstreut. Grummelnd und unter dem Gelächter aller trug er dann doch Koffer für Koffer einzeln in die Hütte.
Am nächsten Morgen ging es früh raus. Christin und Jakob waren schon wach und versuchten auf dem Holzofen der Hütte eine Milch für den Kakao und Wasser für den Kaffee zu erhitzen. Nachdem das Holz dafür fast leer war, ging Jakob ohne einen Guten-Morgen-Kaffee murrend raus, um Holz zu hacken. Christin fragte unterdessen Sarah und Lucie: »Habt ihr schon etwas von Miriam, Bernhard oder Timo gehört?« – »Nein«, antworteten beide sofort kopfschüttelnd. »Na dann solltet ihr sie mal aufwecken gehen«, meinte Christin, die ihnen daraufhin jeweils einen Kochlöffel und einen Topfdeckel in die Hand gab. Beide rannten kichernd die Holztreppe zu den Schlafzimmern hoch und sofort als sie oben angekommen waren, ertönte ein Höllenlärm. Jakob stürmte die Tür herein und hatte schlimmstes befürchtet, fand jedoch lediglich Christin, wie sie sich lachend am Küchentisch abstützte. Kurz darauf kamen die Kinder die Treppe hinabgestürmt, gejagt von Bernhard, Miriam und Timo, die etwas unsanft aus ihren Betten geklingelt wurden. Als es dann jedoch einen Kaffee, Kakao und ein gutes Frühstück mit Brot und Marmelade gab, war die Stimmung trotzdem gut und jeder freute sich auf den bevorstehenden Tag. Heute stand nämlich etwas ganz Besonderes an: ein Weihnachtsbaum musste her. Die letzten Jahre hatten beide Familien immer nur einen künstlichen Tannenbaum. Christin und Jakob hatten es im ersten Jahr in ihrem Haus nicht geschafft einen echten Baum zu holen und haben in den darauffolgenden Jahren gedacht, dass es der vorhandene doch eigentlich ganz gut macht – das ist jetzt schon vier Jahre her. Dieses Jahr aber war es anders. Sie konnten den Baum nicht im Auto transportieren und jetzt nochmal einen künstlichen Baum zu holen wäre Blödsinn.
So zog die Karawane, bestehend aus beiden Familien, nach dem Frühstück eingemummelt in Jacke, Schal, Mütze, Schneehose, Stiefel und Handschuhen und bewaffnet mit einer Säge bei schönstem Sonnenschein über schneebedeckte Wiesen in den nahegelegenen Wald. Die Kinder hatten ihren Spaß dabei entweder auf dem Schlitten zu sitzen und sich ziehen zu lassen, sich untereinander zu ziehen oder sich Streiche zu spielen. Timo erwischte es einmal richtig fies, als Lucie ihn ablenkte und Sarah einen schneebedeckten Ast über ihm schüttelte und der ganze Schnee auf Timo runterfiel. Da sie alle aber in ihre Jacken eingepackt waren, hatte es Timo nichts weiter ausgemacht. Er schüttelte sich kurz und ein wildes Schneeball-Versteck-Spiel entbrannte fast augenblicklich danach.
Endlich fiel ihnen ein kleiner Hain Tannen auf und sie steuerten darauf zu. Nun begann der wahrscheinlich schwierigste Teil des Tages: die Auswahl des richtigen Baums. Jakob und Bernhard entschieden, dass sie sich da dieses Jahr raushalten werden, da sie ja schließlich den Baum fällen müssten. So stapften Christin, Miriam und Timo mit Lucie und Sarah durch den Schnee zwischen den Tannen durch, während es sich die beiden Männer auf dem Schlitten gemütlich machten und über die verwirrten Rufe aus dem Tannenhain scherzten. Nach knapp einer halben Stunde, allen waren schon die Füße halb eingefroren, war der richtige Baum auserkoren. Bernhard nahm die Säge und Jakob zog den Schlitten an den Rand des Tannenhains. Gemeinsam fällten sie den Baum, der echt hübsch war. Er war nicht zu klein, nicht zu wuchtig, sah aber auch nicht verhungert oder schief und krumm aus. Sie hievten die Tanne auf ihren Schlitten und zogen ihn abwechselnd nachhause zu ihrer Hütte. Dort stellten sie ihn in ihrem großen, gemütlichen Wohnzimmer auf. Miriam meinte daraufhin ganz leise zu Christin: »Du sag mal, hast Du an die Weihnachtsdeko gedacht?« Lautlos formte Christin die Worte ‚Verdammt‘ und ergänzte flüsternd: »Ich wusste, ich hab etwas vergessen… Natürlich hab ich nicht daran gedacht.« Sie zuckte mit den Schultern und forderte Timo, Lucie und Sarah auf: »Holt alle Eure Mal- und Bastelsachen. Dieses Jahr machen wir die Weihnachtsdeko selbst!« Jakob und Bernhard verzogen sich inzwischen heimlich nach draußen.
Am Ende war der Weihnachtsbaum mit selbst gebastelten Strohsternen und gemalten Kerzen und allem geschmückt, was sie sonst noch in der Hütte finden konnten. Sarah wollte unbedingt ein paar ihrer Figuren und Tiere aus dem Playmobil-Zoo als Krippe unter den Christbaum stellen und Lucie stellte eins ihrer Filly-Pferdchen mit dazu. Auch, wenn der gelbe Lieblings-Radlader von Timo nicht unbedingt dazu passte, kam auch er zur Krippe und bildete mit seiner Schaufel die Wiege für das Christkind.
Jakob und Bernhard hatten die Zeit inzwischen genutzt und eine Schneebar gebaut, die als Ersatz für den Christkindlmarktstand dienen sollte. Außerdem hatten sie in dem Schuppen neben der Hütte einen dreifüßigen Grill ausgegraben, den man super über eine Lagerfeuerstelle platzieren konnte. »Bringst Du mir einen Topf von drinnen mit?«, rief Jakob Christin zu, als alle nach dem Schmücken des Weihnachtsbaums rauskamen. Bernhard nahm von Christin den Topf entgegen, lief zu seinem Auto und kam Minuten später mitsamt Topf und einer Flasche wieder zurück. »Ihr glaubt doch nicht, dass wir ohne Kinderpunsch und Glühwein in die Berge fahren?!«, grinste er, während er den mit Punsch gefüllten Topf an der Kette des Dreibeins befestigte und über das Lagerfeuer hing.
Alle genossen den warmen Punsch, die Kinder ohne, die Eltern mit einem (kleinen) Schuss Amaretto, während der Tag dem Abend zu ging. Langsam begann es zu schneien und von drinnen erklang das Klingeln eines kleinen Glöckchens. Obwohl die Kinder mitten im Spielen waren, hörten sie es, brachen sofort ab, was auch immer sie getan hatten und rannten zum Eingang. »Langsam, langsam, meine Lieben.«, hielt Bernhard sie auf: »Erstmal müsst ihr Eure Schneesachen hierlassen, sonst nimmt das Christkind gleich wieder alles mit.«
In der warmen Stube angekommen, flackerte im Kamin das Feuer vor sich hin und jede Kerze im Wohnzimmer brannte. Lucie nahm den letzten Schluck von ihrem Punsch und stürmte dann zu Sarah und Timo, die schon unterm Christbaum saßen und sich näher anschauten, was das Christkind ihnen mitgebracht hat. Jedes der Kinder konnte sich über ein kleines Geschenk freuen. Christin freute sich, als sie das Strahlen in den Augen sah, während die Kinder nacheinander ihre Päckchen aufpackten. Insgeheim dankte sie sich selbst und auch Jakob, Miriam und Bernhard, dass sie sich ihr gemeinsames Weihnachtsgeschenk erfüllen konnten: Eine Woche Urlaub – gemeinsam mit der Familie und den Freunden, mit denen sie am meisten Spaß hatte.
In diesem Sinne - fröhliche Weihnachten!
Eine Weihnachtsgeschichte von Dominik Auracher, Dezember 2020
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