Karl sitzt im Büro einer großen Konditorei und schaut wehmütig den letzten Sonnenstrahlen nach, die durch sein Fenster scheinen. Kaum sind sie verschwunden, denkt er »Verdammt, es ist schon wieder Abend! Dabei hätte ich noch so viel zu tun ... – welcher Tag ist heute eigentlich?« Er öffnet seinen Kalender und schaut nach. »Es ist der 17. Dezember – hm, da war doch was ...« überlegte er laut. »Ah ja stimmt, wir gehen heute auf den Christkindlmarkt.«
Bereits seit 15 Jahren, als seine Freunde und er mit dem Studium fertig waren und zu arbeiten begonnen haben, treffen sie sich traditionell jedes Jahr am 17. Dezember am Feuerzangenbowle-Stand auf dem Christkindlmarkt. Er dachte kurz daran, wie er das nur vergessen konnte, doch ein Anruf riss ihn aus seinen Gedanken. Es war ein genervter Kunde, der noch sieben Tage vor Weihnachten eine Großbestellung Lebkuchen und Stollen in Auftrag geben wollte. Sie müssten unbedingt am Montag fertig sein. Wieder schaute Karl auf seinen Kalender, nachdem er bereits vergessen hatte, welcher Wochentag heute war – es war Mittwochabend. Bis Montag blieben also nur noch zwei Tage oder sie mussten das Wochenende durcharbeiten. Das gefiel ihm gar nicht, jetzt ist die Adventszeit eh so kurz und stressig, da wollte er wenigstens die Wochenenden mit seiner Familie verbringen.
Kaum hatte er aufgelegt und sich leicht verärgert die Bestellung notiert, erinnerte ihn sein Handy daran, dass er in 15 Minuten auf dem Christkindlmarkt sein sollte. Er packte schnell all seine Sachen, schaltete seinen Computer aus und eilte zum Auto. Im Auto verschnaufte er kurz, schaltete den Motor an und dachte »Eigentlich bin ich gerade gar nicht in Vorweihnachtsstimmung.« Daraufhin machte er das Radio an, in der Hoffnung, dass ihn die Weihnachtslieder auf der Fahrt etwas mehr in Stimmung bringen – aber Pustekuchen. Zwanzig Minuten brauchte Karl von seinem Büro bis zum Christkindlmarkt. In dieser Zeit spielten sie mindestens zweimal „Last Christmas“, was ihn schon seit drei Jahren nervt und er schaltete das Radio wieder aus.
Nachdem er am Christkindlmarkt endlich einen der wenigen Parkplätze gefunden hatte, sah er eine junge Frau mit ihrem kleinen Sohn. Der schrie gerade seine Mama an »Ich will gebrannte Mandeln!« und begann noch mehr zu quengeln. Auf dem Weg zum Feuerzangenbowle-Stand kam Karl an noch vielen anderen Familien, Pärchen oder einzelnen Leuten vorbei, die alle gestresst von Laden zu Laden hetzten. Meistens telefonierten sie dabei angestrengt oder schauten auf ihr Smartphone. Karl wunderte sich, dass alle an einander vorbeilaufen können, ohne sich gegenseitig umzurennen. Er hatte den Gedanken noch nicht beendet, rempelte ihn ein Kerl an. Er trug drei Handtaschen und seine Freundin hakte sich bei ihm ein und beide starrten auf ihr Handy, während sie darüber diskutierten, was sie einer gewissen Jaqueline schenken sollten. Ohne aufzuschauen liefen sie weiter.
Endlich war er am Stand angekommen und es kam ein bisschen Weihnachtsstimmung auf, als er seine Kumpels unter einem mit Tannenzweigen bedeckten Häuschen stehen sah. Jeder von ihnen hielt bereits eine dampfende Tasse Feuerzangenbowle in der Hand. Jetzt freute er sich doch auch ein bisschen auf Feuerzangenbowle. »Hey Karl!« wurde er von Flo begrüßt, als er mit seiner Tasse in der Hand zu ihnen stieß. »Wo warst Du so lange? Hast Du uns etwa vergessen?!« Karl machte eine unschuldige Geste und grinste »Ehrlich gesagt, ja. Wir hatten heute 25 Grad draußen, ich war mittags mit der Sonnenbrille vor unserer Konditorei gesessen und hab gegessen. Wer sollte denn da an Feuerzangenbowle denken? Ich hätte mir lieber nen Mojito und einen Liegestuhl gewünscht!« – »Ja, ging mir auch so – wir hatten uns schon überlegt, statt ner Tanne eine Palme zu holen und die zu dekorieren, aber irgendwie zieht meine Frau nicht wirklich mit«, meinte Christian. »Also, wenn das so weiter geht, wird das echt ein komisches Weihnachten«, lachte auch Kai. »Wir im Supermarkt sind ja immer sau früh dran. Im August räumen wir wie die Irren das Weihnachtszeug her, wo wir noch mindestens 30 Grad draußen haben – und fünfmal dürft ihr raten, was jetzt schon bei uns im Lager steht.« Er sah sich erwartungsvoll in der Runde um. Alle zuckten mit der Schulter, worauf er mit noch mehr lachen antwortete »Na was wohl? Die Armada von Osterhasen und Ostereier! Wir warten nur drauf, dass der Weihnachtskram ausverkauft ist.« Wir stimmten alle mit in sein lachen ein und fragten uns langsam, wie da die Vorfreude auf Weihnachten aufkommen soll.
Martin hatte daraufhin eine super Idee »Lasst uns doch mit unseren Familien am Freitag die Weihnachtsbäume kaufen.« Karl antwortete ohne zu zögern: »Oh ja! Wir sind sonst wieder zu spät dran und müssen so eine Tanne nehmen, die mehr einem Zahnstocher gleicht, als einem Weihnachtsbaum. Letztes Jahr hatten wir so ein Ding, das hatte so wenig Nadeln und die Wenigen, die sie hatte, konnte ich am zweiten Weihnachtsfeiertag zusammenkehren.« Wir alle lachten und schlugen ein. »Abgemacht, wir treffen uns am Freitagnachmittag zum Christbaum kaufen.«
An besagtem Freitag stürmten sie dann mit ihren Familien den Platz, auf dem sich ein Verkäufer für Weihnachtsbäume niedergelassen hatte. Als sie ankamen und die Kinder aus den Autos stiegen und auf die Bäume zuliefen, sah Karl das verdutzte Gesicht des Verkäufers und lachte Christian zu »Der Verkäufer hat wohl grad auch gesehen, was ihn erwartet«. Christian meinte scherzend »Oh ja« und fügte mit einem Schmunzeln und einem Blick zu seiner Frau hinzu »Schade, dass sie keine Palmen dahaben, wo wir doch so gerne eine mitgenommen hätten.« Seine Frau verdrehte die Augen und konterte verschmitzt »Du kannst den Baum ja im Cabrio zurückfahren, wenn Du unbedingt Deinen Christbaum mit Sommer verbinden willst.« Auf dem Weg zu den Christbäumen flüsterte er Martin zu »Hilfst Du mir dann den Baum ins Cabrio einzuladen? Ich find die Idee super!«
Nachdem nach einer realen Stunde und gefühlten drei Stunden nun jede Familie den richtigen Baum hatte, wurde es langsam Abend. Martin half Christian seinen Christbaum in das offene Cabrio zu stellen und der Rest seiner Familie quetschte sich mit ins Auto und die Kinder lachten los. Die Kinder waren sowieso noch voll aufgedreht. Obwohl das Wochenende des dritten Advents war, ist bisher niemand in Weihnachtsstimmung. Jeder ist im Stress und muss noch so viele Besorgungen machen oder banale Dinge erledigen, wie Plätzchen backen. Lediglich die Kinder freuten sich schon auf das Christkind. Diesmal war es Karl, der eine super Idee hatte »Hey Leute, was haltet ihr davon, wenn wir uns später bei uns in der alten Bauernstube treffen?« Karls Familie hatte vor einigen Jahren ein altes Bauernhaus geerbt und haben schon immer mal vorgehabt, dort in der Advents- und Weihnachtszeit gemeinsam mit Freunden schöne Abende zu verbringen. Anna, die Tochter von Martin, war sofort Feuer und Flamme und begeisterte ruckzuck auch alle anderen Kinder. Sie schmiedeten bereits Pläne, abends gemeinsam Wunschzettel an das Christkind zu schreiben – und so war die Planung des Abends wohl erledigt.
Karl, seine Frau Yvonne und sein Sohn Lukas fuhren nachhause, luden schnell den Tannenbaum aus und überlegten sich, was sie für alle abends zum Essen machen. Yvonne schlug vor »Wenn wir schon Weihnachtsstimmung haben wollen, lasst uns doch Bratäpfel machen, was meint ihr?« – »Oh ja und ganz viel heißen Kakao dazu!« freute sich Lukas. Sie packten schnell die ganzen Sachen dafür zusammen und fuhren ein paar Minuten später zu ihrem alten Bauernhaus. Dort angekommen fingen sie an, alles vorzubereiten. Karl heizte den Kachelofen ein, damit es wohlig warm wird, Lukas zerrte Blöcke und Stifte aus der Schublade und Yvonne begann die Äpfel auszuhöhlen. Nach und nach trudelten die Familien und ihre Kinder ein. Die Kinder setzten ihren vorherigen Plan in die Tat um und kritzelten unleserlich die umfangreichsten Wunschzettel, während die Eltern gemeinsam das Essen zubereiteten. »Die Hütte hier ist schon genial«, meinte Kai, »Sie ist einfach so uralt, dass man sich wie im Museum fühlt. Du hast keinen Empfang mit dem Handy und wenn Dir kalt ist, Du was warmes Essen möchtest oder warmes Wasser brauchst, musst Du erstmal den Holzofen anheizen«. Karl freute sich, dass es Martin genauso geht. Er hatte manchmal, wenn er dasselbe gedacht hat, Bedenken, er ist nun einfach zu alt – dabei ist Karl erst 34.
Am Ende des Abends, nachdem alle genug Bratäpfel gegessen hatten und jeder eine Tasse Kakao oder Glühwein vor sich stehen hatte, begann Yvonne für alle eine Weihnachtsgeschichte vorzulesen – die erste Weihnachtsgeschichte in diesem Jahr. Flo flüsterte Karl mit einem Lächeln zu »So leise war es nicht mehr, seit wir gegessen haben.«, woraufhin er sich gleich von Anna einen Rüffler eingeholt hat »Psssssst, wir wollen doch die Geschichte hören!« Als jeder dann seine Tasse ausgetrunken hatte, das Feuer runtergebrannt war und die Kinder bereits müde ihre Augen rieben, verabschiedeten sie sich nach und nach und fuhren nachhause. Beim Gehen sagte Christian noch zu Karl »Auch, wenn es morgen wieder 24 Grad warm wird und die Weihnachtsstimmung wieder dahin ist, eines hat der Abend gebracht: In all dem Stress, alles vor Weihnachten zu erledigen, war der Abend wie Urlaub.«
Eine Weihnachtsgeschichte von Dominik Auracher, Dezember 2018
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