Gebannt beobachtete Sonja den Zuckerwürfel, der in dem Schnabel ihrer heißen Tasse Feuerzangenbowle brannte. Und schon ist es wieder passiert: jemand hat sie angestupst und der in Rum getränkte Zuckerwürfel ist viel zu früh in die Tasse geflutscht und die Flamme ist erloschen. „Hey Du Träumerin!“, schmunzelte die Stupersin – Anne, ihre beste Freundin. „Wie man nur so von einem Würfel Zucker fasziniert sein kann.“ Sonja schlürfte vorsichtig einen Schluck aus ihrer dampfenden Tasse und musste direkt das Gesicht verziehen: „Puuuh, ist das stark! Das hätte ruhig noch ein paar Minuten länger brennen können!“ Dabei warf sie Anne einen vorwurfsvollen Blick zu. Während der Schluck heißer Feuerzangenbowle langsam in der Magengegend ankam, seufzte sie: „Wir haben dieses Jahr kein Glück mit Weihnachtsmärkten. Immer, wenn wir einen besuchen wollen, ist so ein Sauwetter.“ Sie schauten aus dem kleinen windigen Unterstand neben der Christkindlmarktbude zu den Regentropfen hinaus, die stetig in die immer größer werdenden Pfützen fielen. „Ja, irgendwie ist es echt verhext. Erst der Schneeregen letzte Woche, gestern dann dieser eiskalte Nieselregen und Wind und heute dieses hässliche Wetter. Wenn’s denn wenigstens richtig schneien würde!“, grummelte Anne und trank den letzten, mittlerweile kalten Schluck Bowle, aus ihrer Tasse. „Hast Du Lust Dich noch ein bisschen aufzuwärmen und zu entspannen?“, fragte Anne, als sie beide die Tassen zurückgaben und an der Pfandrückgabe auf ihr Rückgeld warteten. „Mhm – was hast Du denn vor?“, wollte Sonja wissen und zog skeptisch eine Augenbraue hoch. „Du weißt doch, dass ich jede Woche bei Leonie zum Yoga gehe.“, meinte Anne, als beide ihre Regenschirme aufspannten und sich auf den Weg zu Annes Wohnung machten. „Klar, aber wenn ich jetzt Yoga mache, sehe ich meine Bratwurstsemmel wieder.“, entgegnete Sonja ablehnend. Lachend erzählte Anne weiter: „Yoga würde ich so auch nicht machen können, aber heute bietet sie eine Traumreise zur Entspannung an und ich hab mich angemeldet.“ Sie blieb abrupt stehen und schaute Sonja erwartungsvoll an: „Außerdem wollte Leonie, dass wir unbedingt unseren Freundinnen und Freunden davon erzählen!“ Sie gingen weiter und waren mittlerweile fast bei Annes Wohnung angekommen, der Regen prasselte jetzt lautstark auf ihre Schirme. Noch immer nicht vollständig überzeugt entgegnete Sonja: „Ich hab ja gar nichts zum Umziehen dabei und in den nassen Klamotten lege ich mich nicht auf eine Matte!“ An der Haustüre angekommen, drückte Anne ihr den Schirm in die Hand, kramte in ihrer vollen Handtasche nach dem Schlüsselbund und wollte Sonja endlich überzeugen: „Keine faulen Ausreden hier! Du kannst Dir von mir ausleihen, was Du brauchst und wir gehen da gemeinsam hin – das wird super und Du wirst es lieben, ich weiß es!“
Eine knappe halbe Stunde später trafen beide mit bequemen Klamotten im weihnachtlich geschmückten Yogastudio ein. „Hey, das ist ja schön, dass ihr zu zweit gekommen seid!“, begrüßte Leonie sie freudig, während sie noch eine Kerze anzündete. „Klar!“, meinte Anne sofort und deutete auf zwei nebeneinanderliegende Matten in der Ecke. „Wir haben Deine Einladung ernst genommen und wollten das unbedingt gemeinsam ausprobieren.“ Sonja nickte und sah sich um. Obwohl der Raum einige Fenster hatte, fiel durch den noch immer anhaltenden Regen nur wenig Licht herein. Das machten aber die zahlreichen Kerzen wieder wett, die überall flackerten und den Raum in ein gemütliches Licht tauchten und einen Duft nach Zimt und Apfel verströmten. Da stupste Anne sie schon wieder an: „Auch, wenn es Dir scheinbar echt schwerfällt, aber die Traumreise hat noch nicht angefangen.“ Sonja wusste nicht, wie lange sie einfach nur in den Raum gestarrt hatte. Nachdem sie ihre nasse Regenjacke und die Schuhe ausgezogen hatten, machten sie es sich auf ihren Plätzen gemütlich auf denen Leonie jeweils ein weiches kleines Kissen, eine flauschige Decke und einen kleinen roten Schokonikolaus gelegt hatte. Inzwischen waren fast alle fünfzehn Plätze belegt und das Rascheln der Nikolausverpackung war nicht zu überhören. Leonie schloss die Tür, setzte sich auf ihre Matte ganz vorne im Raum und die Gespräche verstummten langsam.
„Schön, dass ihr alle da seid und Euch auf eine kleine Reise mit mir einlasst.“, begann Leonie mit einem Lächeln. „Macht es Euch auf den Matten gerne so gemütlich als würdet ihr auf Eurer Couch liegen. Holt Euch noch ein Kissen, wenn ihr möchtet oder eine weitere Decke, wenn Euch etwas kalt ist bei dem Wetter und dann können wir beginnen.“, erzählte sie weiter mit einer sanften und ruhigen Stimme. In einer kurzen Pause, in der sich jeder dreht und wälzte, bis die perfekte Position erreicht war und nichts mehr piekste, zündete Leonie eine letzte Kerze an. Diese Kerze war besonders, denn ihr Holzdocht fing sofort an leise zu knistern, als würde hier irgendwo ein Feuer im Kamin brennen. Sonja lauschte noch dem leisen Knistern und Knacken, als Leonie mit ihrer Reise begann:
„Atme jetzt tief durch die Nase ein und stell Dir vor, wie tausende klitzekleine Schneeflocken vom Himmel fallen. Atme wieder aus und stell Dir vor, wie eine kleine Flocke auf Deiner Nasenspitze landet, dort ganz kurz ein kaltes Kitzeln hervorruft und dann ganz schnell zu einem kleinen Fleck Wasser zerschmilzt.
Atme wieder ein und beobachte, wie weitere Schneeflöckchen ganz leicht wie sie sind zum verschneiten Boden herabschweben. Atme langsam durch den Mund wieder aus und stell Dir vor, wie der Hauch des Atems langsam in der kalten Winterluft eine kleine weiße Wolke bildet.
Lass nun den Atem wieder normal fließen und wir beginnen unsere Reise durch ein abendliches Winterwunderland. Du senkst den Blick auf den schneebedeckten Boden und setzt ganz vorsichtig Deinen linken Fuß in den Schnee. Anfangs spürst Du gar keinen Widerstand als der Fuß durch die oberste Schicht Pulverschnee gleitet. Beim vollständigen Aufsetzen des Fußes knirscht der Schnee dann leise. Mit dem zweiten Schritt auf dem zugeschneiten Feldweg hörst Du nicht nur den Schnee knirschen, es ertönt auch ein leises Knacken einer zugefrorenen Pfütze. Nach ein paar weiteren sehr vorsichtigen Schritten den Weg entlang, hebst Du Deinen Blick und siehst einen vereisten Ast in den Weg ragen. Er ist in eine glasklare Eisschicht eingehüllt und trägt eine kleine fluffige Mütze aus Schnee. Sogar das sonst kräftige Orange der Hagebutte ist durch die Eisschicht etwas gedämpft. Du duckst Dich unter dem Zweig hindurch und erreichst nach ein paar weiteren rutschigen Schritten den Rand des kleinen Tannenwäldchens.
Die Tannen stehen ganz dicht beisammen und bilden mit ihren ausladenden dunkelgrünen Zweigen, die nun auch mit einer dicken Schicht Schnee bedeckt sind und bis fast zum Boden reichen, ein tolles Dach. Du bückst Dich, hebst einen der untersten Äste langsam hoch und blickst vorsichtig darunter. Erschrocken huscht eine kleine Maus davon, die sich in ihrem Versteck ertappt gefühlt hat. Du siehst gerade noch, wie sie flink in ihrem dunklen Mauseloch verschwindet und richtest Dich wieder auf. Dabei rutscht Dir Deine Mütze etwas in die Stirn, Du hebst Deine Hand, schiebst sie behutsam wieder zurück und nimmst dabei den Geruch von frischen Tannennadeln war, der an Deiner Hand haftet. Daneben dringt aber auch ein kleines bisschen Rauch eines Lagerfeuers zu Deiner Nase durch.
Mit dem Rand des Tannenwäldchens beginnt am Boden auf einer Seite des Wegs eine Lichterkette mit ganz vielen kleinen hellen Kugeln, die den Weg in das kleine Waldstückchen in ein angenehmes Licht taucht und die Dämmerung vertreibt. Außerdem nimmst Du ganz fern die ersten lauteren Stimmen von Leuten auf dem Weihnachtsmarkt inmitten des Wäldchens wahr und freust Dich selbst in ein paar Minuten dort zu sein und die Eindrücke in Dich aufnehmen zu können.
Durch jeden Schritt durch den Wald über kleine Ästchen und heruntergefallene Zapfen kommst Du näher an das Geschehen. Die erste hölzerne Christkindlmarktbude, die mit Tannenzweigen geschmückt und mit ganz vielen Lichtern erhellt ist, erscheint vor Dir. Du nimmst den Geruch von frisch gebratenen Bratwürsteln auf dem Grill über glühender Kohle wahr. Der nächste Stand bereitet in einem Topf, der über knisterndem Feuer hängt einen köstlichen Glühwein zu. Dampfend wird er mit einem glänzenden Kochlöffel in eine Tasse geschenkt und Dir gereicht. Du nimmst sie mit beiden Händen und spürst die angenehme Wärme an Deinen Händen. Riechst Du die Orange und die Gewürze, wenn Du Deine Nase in den warmen Dampf über Deiner Tasse hältst? Spürst Du, wie der warme Dampf Deine kalten Lippen berührt? Nach einem kräftigen Schluck wohlschmeckenden Glühweins drehst Du Dich um. Alle eingeschneiten Buden des Weihnachtsmarktes stehen in einem großzügigen Kreis um ein loderndes und knisterndes Lagerfeuer herum, an dem sich Groß und Klein wieder aufwärmt. Langsam merkst Du, wie kalt und dunkel es mittlerweile geworden ist und gehst auch selbst vorsichtig auf das Feuer zu. Es knackt und knistert und flackert vor sich hin und mit jedem Schritt, den Du auf das Feuer zu machst, spürst Du, wie die Wärme immer mehr und angenehmer wird. Gebannt beobachtest Du die Flammen, wie sie an den aufgetürmten Holzscheiten streifen und immer wieder einen kleinen Funken in den dunklen Himmel schicken, wo er mit den kleinen herabfallenden Schneeflöckchen tanzt, bevor er erlischt.
Irgendwann, Du weißt gar nicht, wie lange Du durch das Lagerfeuer in den Bann gezogen wurdest, trinkst Du den letzten Schluck Glühwein aus und machst Dich auf den Weg die Tasse zurückzubringen. Auch jetzt merkst Du mit jedem Schritt, der Dich vom mittlerweile stark abgebrannten Feuer wegträgt, wie die mollige Wärme nachlässt. Du blickst nach oben und siehst, wie die Wolken, die vorhin noch mehr Schnee gebracht haben, mittlerweile einer sternenklaren und dunklen Nacht gewichen sind. Gerade wolltest Du Dich schon auf den Rückweg machen, hast aber noch den Duft von frischen gebrannten Mandeln aufgeschnappt. Zwei Hüttchen rechts von Dir siehst Du, wie der Verkäufer einem kleinen Jungen mit einer Bommelmütze eine Tüte über die Theke reicht. Er grinst bis zu beiden Ohren und Du weißt sofort, dass Du auch gleich so vor dem Verkäufer stehen wirst.
Kaum hast Du Deine warme Tüte gebrannter Mandeln in der Hand, grinst auch Du wie schon lange nicht mehr, faltest die Tüte auf und steckst Dir gleich zwei Mandeln in den Mund. Du beißt auf die Mandeln, es knackt und sofort schmeckst Du die Süße. Sie sind einfach unglaublich lecker! Jetzt kannst Du Dich langsam auf den Rückweg machen, vorbei an den Buden mit leckerem Essen und heißen Getränken, tollsten Basteleien und liebevoll gestalteten Adventskränzen. Du schlängelst Dich durch die Leute, die mit Bratwurstsemmeln und Tassen Punsch und Glühwein gemütlich beisammenstehen und erreichst schließlich wieder den Anfang des Weges, den Du gekommen bist. Du bleibst nochmal stehen, folgst mit Deinem Blick dem schwach beleuchteten Weg und stapfst los durch den knöchelhohen weichen Schnee. Am Ende des Waldes musst Du nochmal stehen bleiben und die Schönheit des Sternenhimmels betrachten. So viele Sterne hast Du schon lange nicht mehr gesehen und auch der Mond zeigt sich von seiner besten Seite: er ist so klar und es kommt Dir vor, als würde er Dir gerne den Rest des Heimwegs als Laterne leuchten.
Zuhause angekommen streifst Du Dir gähnend die Schuhe ab und wirfst Deine Jacke über den Haken an der Garderobe. Den Schal und die Mütze wirfst Du auf das kleine Bänkchen Deines Schuhregals, während Du Dir die Augen reibst. Keine fünf Minuten später bist Du fertig für Dein kuschelig warmes Bett. Nachdem Du das große weiche Kissen kurz aufgeschüttelt hast, legst Du sanft Deinen Kopf darauf ab und lässt ihn schwer in das Kissen sinken. Deine kuschelige Decke ziehst Du hoch bis gerade noch die Nase rausschaut.
Hier angekommen atmest Du ganz tief durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus.“, endete Leonie ihre Traumreise. Leise knistert noch immer die Kerze als Sonja langsam und vorsichtig ihre Augen öffnete. Sie musste daraufhin sofort an das Lagerfeuer denken, das sie sich so bildlich vorstellen konnte, als wäre sie selbst dabei gewesen und musste lächeln. Verschlafen schaute Anne sie an und flüsterte: „Na, wie hat’s Dir gefallen?“ – „Es war einfach unglaublich!“, gab sie begeistert zurück.
Nachdem sich alle im Raum langsam wieder aus ihren Decken gewälzt, sich gestreckt und vorsichtig hingesetzt hatten, schloss Leonie die Reise mit einem Lächeln für heute ab: „Schön, dass ihr alle da wart, ihr Lieben. Habt einen schönen Abend und eine ruhige und gemütliche Adventszeit und ich würde mich freuen, wenn ihr entweder zu einer weiteren Traumreise oder natürlich auch sehr gerne zum Yoga vorbeikommen würdet.“
Gemächlich standen Sonja und Anne auf, bedankten und verabschiedeten sich von Leonie und machten sich wieder auf den Weg zu Annes Wohnung. Anne ging zuerst durch die Tür nach draußen und rief freudig: „Schau mal! Es geschehen noch Wunder! Es schneit!“ – „Na dann brauchen wir doch nur noch ein Waldstückchen mit Weihnachtsmarkt und Lagerfeuer für unsere gemeinsame kleine Traumreise“, antwortete Sonja verschmitzt.
Eine Weihnachtsgeschichte von Dominik Auracher, Dezember 2024
Die Geschichte darf nicht ohne Rücksprache kopiert werden. Du kannst jedoch sehr gerne den Link auf diese Geschichte weiterverwenden oder mit Deinen Freunden teilen.